Volle Stauseen im Spätherbst sind für eine sichere Stromversorgung der Schweiz während der kritischen Wintermonaten von grosser Bedeutung. Mit dem Klimawandel verändern sich auch die Zuflüsse in die Seen. Die Folge ist, dass die Prognose und damit auch die Arbeit der Asset Optimierer bei Alpiq komplexer wird. Sie sorgen dafür, dass das gespeicherte Wasser optimal zur bedarfs- und preisgerechten Stromproduktion genutzt werden kann. Doch manchmal sind auch ihnen die Hände gebunden. Raphael Mutzner, 37, erklärt uns die Herausforderungen seiner für die Schweiz wichtigen Rolle.
Der Spätherbst ist vielleicht die attraktivste Jahreszeit für einen Ausflug übers Nebelmeer hinaus und an einen Stausee. Bei blauem Himmel sorgt die Sonne für angenehme Temperaturen und die Bäume spiegeln sich in leuchtender Farbenpracht in der Wasseroberfläche der gut gefüllten Seen.
Der Spätherbst, insbesondere die Monate Oktober und November, gehört aber auch zur Jahreszeit, welche Raphael Mutzner in seinem Berufsalltag vor die grösste Herausforderung stellt. Der Physiker, mit Abschluss an der EPFL, ist Spezialist für Inflow-Forecasting, der Prognose und Planung der Zuflüsse. Seine Hauptaufgabe bei Alpiq: Als «Asset-Optimiser» den Betrieb der Wasserkraftwerke und den Inhalt der dazu gehörenden Stausee möglichst effizient zu steuern und damit den bestmöglichen Einsatz des gespeicherten Wassers sicherzustellen. Bei seiner Arbeit kann er sich auf sein Know-how verlassen, das er sich während seiner Doktorarbeit in Hydrologie und den Berufsstationen erarbeitet hat, insbesondere das Verständnis für physikalische Prozesse im Einzugsgebiet der Alpiq-Wasserkraftwerke und wie die Daten von Messstationen zu interpretieren sind.
Erfahrung, Modellierungen und Wettervorhersagen
Raphael Mutzner und seine Arbeitskollegen prognostizieren nämlich aufgrund von Modellierungen und Wettervorhersagen wie sich der Zufluss in die Stauseen und damit deren Füllstand entwickelt. «Daraus abgeleitet setzen wir jeden Tag dem Asset Trading eine Bandbreite, wieviel Produktionsleistung pro Wasserkraftanlage aktuell zur Verfügung steht», sagt er. Das Asset Trading von Alpiq verkauft die Energieproduktion aus den eigenen Kraftwerksanlagen auf den europaweiten Marktplätzen. Aufgrund dieser verbindlichen Vorgaben aus dem Team von Raphael Mutzner platzieren die Händlerinnen die Angebote am Markt. Stossen die Angebote auf eine entsprechende Nachfrage, wird der Strom produziert.
Maximum im November, Tiefststand im April
«Die Maxime bei diesen Vorgaben lautet: Das Wasser sollte dann zur Verfügung stehen, wenn die Nachfrage am grössten ist, die Marktpreise am höchsten sind und der Strom aus den Wasserkraftwerken für die Versorgungssicherheit am wertvollsten ist», sagt Raphael Mutzner. Stauseen wie der Lac des Dix (Grande Dixence), Moiry, Emosson oder Salanfe sollten in der Regel zwischen Oktober und November ihren höchsten Füllstand haben, damit in den Wintermonaten Strom aufgrund der Nachfrage der Konsumentinnen und Konsumenten produziert werden kann. Im April, und somit vor der sommerlichen Schneeschmelze, erreichen die Pegel ihren Tiefststand.
Wir passen zwar fortlaufend die Modelle den neuen Entwicklungen an. Aber aufgrund der Auswirkungen des Klimawandels müssen wir künftig wohl immer grössere Reserven einbauen. Der Klimawandel macht unsere Arbeit komplexer.
Bis vor einigen Jahren musste Raphael Mutzner in diesen Berechnungen vor allem die saisonale Schneeschmelze antizipieren. Doch die Klimaveränderung setzt auch hier neue Rahmenbedingungen und erhöht die Anforderungen respektive die Komplexität bezüglich genauer Prognosen. «Einerseits ist die Schneefallgrenze stark angestiegen, anderseits häufen sich Wetterextreme», sagt der 37-Jährige. Und genau diese stellen das Asset-Optimisation-Team im Spätherbst vor grosse Herausforderungen. Folgt beispielsweise auf eine Periode mit ersten Schneefällen nochmals Tauwetter, allenfalls sogar gepaart mit einem heftigen Gewitter, bringt das sehr schnell unerwartet hohe Zuflüsse in die zu dieser Jahreszeit bereits vollen Seen. So geschehen beispielsweise im November 2023. «Um uns vorzubereiten und vor solchen Extremsituationen zu schützen, bauen wir beim Füllstand eine Sicherheitsmarge ein», sagt Mutzner.
Manchmal ist der Stausee zu klein für die Menge an Schmelzwasser
Während die Asset-Optimiser versuchen, die meisten Stauseen aktiv zu steuern, müssen sie manchmal tatenlos zusehen, wie Wasser für die Stromproduktion ungenutzt zu Tale fliesst. Der Gebidem-Stausee ist angesichts der anfallenden Wassermengen zu klein. An heissen Tagen vermag der See das Schmelzwasser des Aletschgletschers nicht gänzlich aufzufangen. «Selbst wenn wir den Seepegel vorausschauend absenken und die Turbinen der Kraftwerkszentrale Bitsch mit Maximalleistung Strom produzieren, füllt sich der See an solchen Tagen immer mehr - bis es zum Überlauf kommt», sagt Raphael Mutzner. «Das Wasser ist somit für die Energieproduktion verloren.» Aufgrund des Klimawandels treten diese Tage mit Überlauf immer häufiger auf. 2023 hätte mit dem Wasser aus dem Überlauf der Jahresbedarf an Strom für mehr als 9000 Haushalte produziert werden können, 2024 sogar für über 14'000 Haushalte. «Eine Verbesserung der Situation gäbe es nur mit der Erhöhung der Speicherkapazität», sagt Raphael Mutzner. Also beispielsweise wie sie mit dem Projekt Oberaletsch, einem Projekt des Runden Tischs Wasserkraft, geplant wäre. «Unser oberstes Ziel ist, die Stauseen und die potenziellen Zuflüsse optimal nutzen und einsetzen zu können.»
Ein guter Kompromiss ist das Ziel
Das Ziel ist es, aufgrund verschiedenster Datenanalysen eine möglichst genaue Prognose zu erstellen und einen guten Kompromiss zu finden. Das heisst: Einerseits vorsorglich etwas Platz im See zu lassen, um mögliche unerwartete Zuflüsse aufzufangen, anderseits aber keine Winterenergie und damit Wert zu verlieren, falls trockenes Wetter herrscht und die Zuflüsse ausbleiben. Denn aus versorgungstechnischer Sicht ist es wünschenswert, wenn das Wasser in der kritischen Zeit zwischen Januar und März zur Stromproduktion genutzt werden kann. Dann verfügt die Schweiz nicht über genügend eigene Produktion und muss Strom aus dem Ausland importieren. «Wir passen zwar fortlaufend die Modelle den neuen Entwicklungen an. Aber aufgrund der Auswirkungen des Klimawandels müssen wir künftig wohl immer grössere Reserven einbauen. Der Klimawandel macht unsere Arbeit komplexer.»